Die internationale Dimension des Antisemitismus
Diskutiert man den Begriff Antisemitismus, manifestiert sich das erste falsche, aber langlebige Narrativ bereits in der Diskussion um den Begriff selbst. Antisemitismus würde “Hass auf Semiten” bedeuten, oft begleitet von “Araber können keine Antisemiten sein, weil sie ja selbst Semiten wären”.
Antisemitismus entstand im 19. Jahrhundert als ideologische Bezeichnung für Judenfeindschaft und bezeichnete den Hass auf alles Jüdische oder vermeintlich Jüdische. Der Begriff „semitisch“ stammt aus der Sprachwissenschaft; er bezeichnete eine Sprachfamilie (z. B. Hebräisch, Arabisch, Amharisch), hat aber mit dem Begriff Antisemitismus nichts zu tun – dieser steht immer und ausschließlich für Judenhass. Der Satz „Araber können keine Antisemiten sein“ ist jedenfalls fachlich falsch.
Auch wenn mehrere Studien zeigen, dass antisemitische Vorstellungen – etwa im Nahen Osten (vgl. ADL Index) oder unter türkischen und arabischen Zuwanderern in Österreich (vgl. Studie Parlament Wien) – überproportional verbreitet sind, bedeutet das nicht, dass der autochthone Antisemitismus verschwunden wäre. Er spielt nach wie vor eine wichtige Rolle in rechts- wie linksextremen Kreisen, oft getarnt, subtil oder verklausuliert. In Verschwörungstheorien wirkt Antisemitismus wie ein verbindender Kit, der letztlich in der Behauptung mündet, am Ende seien vermeintlich „die Juden“ die eigentlichen „Strippenzieher“.
Antisemitismus ist integraler und vereinender Bestandteil unterschiedlicher radikaler und gefährlicher Strömungen
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Israelbezogener Antisemitismus und das Narrativ, dass “jede Kritik an Israel als antisemitisch gebrandmarkt werden würde” auf dem Prüfstand
Der Großmufti von Jerusalem, Amin al-Husseini, kollaborierte bereits während des Zweiten Weltkriegs mit Hitler, unterstützte die NS-Ideologie und rief zum Kampf gegen Jüdinnen und Juden auf. Nach 1945 flohen mehrere Nationalsozialisten in den Nahen Osten, wo sie bei autoritären Regimen Zuflucht und Einfluss fanden. SS-Offizier Alois Brunner, ein enger Mitarbeiter Eichmanns, lebte jahrzehntelang in Syrien und arbeitete dort für das Regime. Der NS-Propagandist Johann von Leers ließ sich in Ägypten nieder, konvertierte zum Islam, nannte sich „Omar Amin“ und wurde unter Nasser Berater für „Judenfragen“. Franz Rademacher, ehemaliger Leiter des Judenreferats im Auswärtigen Amt, lebte ebenfalls eine Zeit lang in Syrien. Das NS-Regime wirkte aber nicht nur personell, sondern auch propagandistisch – nicht nur in Europa, sondern auch im Nahen Osten, und das selbst nach seinem Zusammenbruch; all das zusätzlich zu dem historisch in der Region bereits vorhandenen Antisemitismus.
Sowohl linksextreme Terrororganisationen wie die RAF als auch rechtsextreme Gruppen wie die Wehrsportgruppe Hoffmann pflegten in den 1970er und 1980er Jahren kooperative Kontakte zu palästinensischen Organisationen wie der PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation). Der stellvertretende WSG-Chef Uwe Behrendt ermordete am 19. Dezember 1980 in Erlangen den Rabbiner Shlomo Lewin und dessen Lebensgefährtin Frida Poeschke – ein antisemitisch motiviertes Verbrechen.
Auch die Sowjetunion und ihre sozialistischen „Bruderstaaten“ betrieben einen offen antisemitischen Kurs, der viele jüdische Bürger zur Flucht in den Westen oder nach Israel motivierte. Die DDR verfolgte gegenüber Israel eine stark ablehnende Politik und nutzte den Terroranschlag bei den Olympischen Spielen 1972 in München eher für ideologische Angriffe auf den Westen und Israel als zur Verurteilung des Terrors.
Die Dämonisierung Israels in Kombination mit der Aberkennung seines Existenzrechts hat eine lange Tradition und unterschiedliche politische Wurzeln, die bis heute nachwirken.
Die rhetorische Figur, dass jede Kritik an der gegenwärtigen oder historischen Politik Israels automatisch als antisemitisch verurteilt werden würde, ist falsch – ein Strohmannargument.
Die israelische Innenpolitik, die Siedlungspolitik, historische Ereignisse sowie die Politik bezüglich des Gazastreifens und der Westbank – all das sind Aspekte, die, auch ohne den Verdacht antisemitischer Motivationen zu verfolgen, sowohl von internationalen Beobachtern als auch von Israelis selbst kritisch betrachtet werden können. Doch entscheidend ist die Frage, wie sich diese Kritik äußert: Bleibt der Terror der Hamas und anderer jihadistischer Gruppen unerwähnt? Wird Israel das Existenzrecht grundsätzlich abgesprochen, oder werden Organisationen, die die vollständige Zerstörung Israels und die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung anstreben, relativiert oder gar glorifiziert? Wird der Terroranschlag vom 7. Oktober 2023 befürwortet oder gar als „Befreiungsschlag“ umgedeutet?
Auch bei historischen Themen stellt sich die Frage, ob der tief verwurzelte Vernichtungsantisemitismus in der Region und die wiederholten Versuche mehrerer Staaten, Israel auszulöschen, einfach ausgeblendet werden.
Um zwischen legitimer Kritik und antisemitischen Tendenzen zu unterscheiden, hilft ein Blick auf die sogenannte 3-D-Definition des israelbezogenen Antisemitismus. Diese benennt drei zentrale Merkmale: Delegitimierung (z. B. die Aberkennung des Existenzrechts Israels), Doppelstandards (wenn Israel mit anderen Maßstäben gemessen wird als andere Staaten) und Dämonisierung (etwa die Darstellung Israels als grundsätzlich bösartig oder verbrecherisch). Wenn sich Kritik an Israel durch eines oder mehrere dieser Elemente auszeichnet, ist sie nicht mehr als politische Meinungsäußerung zu verstehen, sondern als Ausdruck antisemitischer Einstellungen.
In vielen Fällen ist israelbezogener Antisemitismus deutlich zu erkennen – und kaum zu leugnen. Dazu gehören beispielsweise die Gleichsetzung der Shoah mit israelischer Politik, die Glorifizierung oder Leugnung des Holocausts im Zusammenhang mit aktuellen Ereignissen (etwa durch Aussagen wie „Schade, dass Hitler sein Werk nicht vollendet hat“), ebenso wie das Verwenden von Hakenkreuzen, NS-Symbolik oder die offene Forderung nach der Vernichtung aller Juden. Auch antisemitische Verschwörungstheorien – etwa die Behauptung, „die Juden kontrollieren alle Medien wenn es um Israel geht” gehören klar in dieses Spektrum.
Offen antisemitischer, verschwörungstheoretischer Post verweist auf die russische Propagandaplattform RT und bedient sich antisemitischer Stereotypen in der Bildsprache
Offen antisemitische, teils Hitler-glorifizierende, Postings als Reaktion auf ein Posting, welches NS Verbrechen zeigt
Das Benennen dieser Aspekte bedeutet nicht, dass man automatisch die Politik der israelischen Regierung unkritisch sieht oder keine Empathie für die humanitäre Situation in Gaza empfindet. Zur Einordnung gehört jedoch auch die Frage: Wird im Rahmen der Kritik zumindest erwähnt, dass die Kriegsführung der Hamas eine zentrale Ursache der Eskalation ist? Wird ebenso Aufmerksamkeit darauf gelegt, wenn palästinensische Demonstranten, die sich gegen die Hamas richten, von dieser verfolgt und ermordet werden – oder werden solche Ereignisse ausgeblendet? Wie sich israelbezogener Antisemitismus völlig unabhängig von der Palästina-Politik manifestieren kann, zeigte sich während der Pandemie, als die rechtsextreme, verschwörungstheoretische Szene ihre wissenschaftsfeindliche Impfgegnerschaft an den hohen Impfquoten in Israel abarbeitete.
Shoah Distortion - die antisemitissche Verzerrung der Geschichte
Shoah-Distortion ist zwar nicht dasselbe wie die Leugnung der Shoah, bezeichnet aber deren Verzerrung – etwa durch Relativierung, unangemessene Vergleiche oder das Umdeuten historischer Fakten. Ein Beispiel dafür ist die Gleichsetzung von Impfgegnern mit verfolgten Jüdinnen und Juden während des Holocausts oder die Behauptung, die Shoah habe zwar stattgefunden, doch die Opferzahlen seien stark übertrieben worden. Solche Aussagen werden häufig mit vermeintlichen „Fakten“ untermauert, etwa mit dem Argument, dass aus logistischen Gründen gar nicht so viele Menschen vergast und verbrannt worden sein könnten.
Auf diese Weise wird ein pseudowissenschaftlicher, scheinbar sachlicher, in Wirklichkeit jedoch völlig irreführender Diskurs geführt, der – wenn schon keine vollständige Leugnung möglich ist – zumindest eine massive Relativierung des Holocausts bezweckt.
Eine international bekannte Figur, die den Holocaust bzw. dessen Ablauf immer wieder in Zweifel zog, ist der britische Autor David Irving. Er behauptete unter anderem fälschlicherweise, die Verwendung von Gaskammern zur Tötung von Millionen sei fragwürdig, die Zahl der Opfer sei stark übertrieben worden, und Hitler habe nichts von der Vernichtung der Jüdinnen und Juden gewusst – alles Aussagen, die durch die historische Forschung eindeutig widerlegt wurden.
Der moderne Antisemitismus manifestiert sich nicht nur in der Verzerrung der Shoah, sondern auch in der Leugnung oder gar Glorifizierung der millionenfachen Ermordung jüdischen Lebens durch die Nationalsozialisten.
Quellen:
ADL - Antisemitism Index 2024
https://www.adl.org/adl-global-100-index-antisemitism
“Antisemitismus wird laut Studie zunehmend "jugendliches" Problem”, Der Standard, April 2025