Das Narrativ der ungerechtfertigten „NATO-Osterweiterung“
von Johannes Thun
Update 16.4. 25.
Update 16.4. 25.
Der Konflikt in der Ukraine ist nicht nur ein militärischer Konflikt, sondern auch ein Teil des hybriden Kriegs im Informationsraum.
Wir sind mitten in diesem Spannungsfeld. Die Antwort auf diese Frage ist heiß umkämpft: Warum findet dieser Krieg überhaupt statt? Wer ist schuld?
Eine der beiden Parteien behauptet, dass Russland unter Wladimir Putin einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die unabhängige Ukraine führt. Dies mit dem Ziel, das gesamte Staatsgebiet an Russland einzugliedern und die Souveränität der Ukraine als unabhängigen, freien demokratischen Staat aufzulösen, das Land zu unterwerfen. Dabei wird darauf hingewiesen, dass das Völkerrecht bereits mit dem Einmarsch 2014 (Krim und Ost-Ukraine) gebrochen wurde. Demnach ist ganz klar Russland als Aggressor zu identifizieren. Ebenso legitimiert ist damit die Verteidigung der Ukraine und die Unterstützung durch den freien Westen.
Die andere Partei anerkennt weitgehend, dass Russland die Ukraine angegriffen hat. Aber: Sie behauptet Verfehlungen und Provokationen des Westens, insbesondere der USA und der NATO hätten Russland zum Einmarsch "provoziert" oder geradezu "gezwungen".Diese wird in der Argumentation fälschlich, aber dem populistischen Narrativen folgend, gerne mit den USA gleichgestellt ("die NATO ist die USA" ).
Russland ist formal der Angreifer, aber historisch betrachtet sei es eine Verteidigungs-Maßnahme gegen eine Bedrohung, die durch die "NATO-Osterweiterung" geschaffen wurde. Gleichzeitig verschiebt diese Partei damit den Kriegsbeginn ins Jahr 1990 und beruft sich auf ein Versprechen die NATO, sich nicht in den Osten zu auszudehnen. Und es sei heute daher das Recht der Russen, sich gegen diese Bedrohung durch die NATO zu wehren.
Das Narrativ des Vertragsbruchs durch die USA
Ein prominenter Vertreter dieser alternativen Sichtweise ist der amerikanische Prof. Jeffrey Sachs und einige andere Experten, die zT. erst dadurch bekannt geworden sind. Ihre Vorträge sind weltweit viral gegangen. Sie argumentieren seit Jahren, dass der eigentliche Konflikt in einem Versprechen der USA aus dem Jahr 1990 wurzele. Damals, so Sachs, hätten der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow und der US-Außenminister James Baker über die NATO-Erweiterung diskutiert. Baker soll zugesichert haben, dass sich die NATO "keinen einzigen Zoll" nach Osten ausdehnen werde.
Doch die Realität verlief anders: Zahlreiche osteuropäische Staaten traten in den folgenden Jahrzehnten der NATO bei. Sachs` Interpretation erscheint daher logisch nachvollziehbar: Die USA hätten 1990 ein Versprechen abgegeben, hielten es nicht ein, und dieser Vertrauensbruch lege den Grundstein für die heutigen Spannungen. Das westliche Militärbündnis wuchs immer mehr in Richtung Russland.
Aus dieser Perspektive von Prof. Sachs ist der Ukraine-Krieg bloß eine Reaktion auf die einseitige Aggression des Westens. Die Expansion der NATO nach dem Kalten Krieg sei eine Bedrohung für Russland, sodass der Einmarsch in die Ukraine als Versuch gewertet werden muss, das weitere Vorrücken der Allianz zu stoppen.
Abgesehen davon, dass diese Erzählung unrichtig ist, unterlassen die Vertreter dieses Narrativs die Erwähnung, warum diese freien, unabhängigen Staaten der Nato als Verteidigungsbündnis beitreten wollten. Es ging immer um die Absicherung gegen russische Übergriffe, was zuletzt sogar durch den Beitritt von Finnland und Schweden eindrucksvoll dokumentiert worden ist. Zumal die Beitrittsansuchen der ersten CEE Staaten Polen, Ungarn und Tschechien erst gestellt wurden, nachdem Russland Tschetschenien angriff. Es war eine Reaktion auf diesen Einmarsch.
Die Tatsachen: Es ging um die deutsche Wiedervereinigung
Obwohl Sachs´ Deutung oberflächlich plausibel erscheint, beruht sie auf einer falschen Annahme, auf die bereits vielfach hingewiesen wurde: Die besagten Verhandlungen von 1990 fanden wirklich statt, und Baker sagte tatsächlich, dass es "keine Erweiterung der NATO nach Osten" geben würde. Allerdings bezog sich diese Aussage ausschließlich auf die ehemalige DDR und nicht auf ganz Osteuropa. Dies wird übrigens in allen Dokumentationen - auch in Russland - so festgehalten! (s. link unten)
Der Kontext dieser Gespräche war die deutsche Wiedervereinigung. Die zentrale Frage war, ob das wiedervereinigte Deutschland NATO-Mitglied bleiben würde und welche sicherheitspolitische Rolle Ostdeutschland spielen sollte.
Die Optionen waren:
- Ostdeutschland bleibt Teil des Warschauer Pakts,
- Deutschland wird nach der Wiedervereinigung neutral, oder
- Deutschland bleibt in der NATO, aber mit Sonderregelungen für Ostdeutschland, in der keine NATO-Truppen stationiert werden dürften.
Das berühmte "not an inch"-Zitat bezog sich auf den dritten Fall: Die NATO würde keine Truppen in der ehemaligen DDR stationieren, solange sowjetische Truppen dort verblieben. Diese Verhandlungen endeten 1990 im Zwei-plus-Vier-Vertrag, der die Bedingungen der deutschen Wiedervereinigung regelte.
Es wurde der dritten Option gefolgt. Bis heute hat die Nato in Ostdeutschland keine Truppen. (Nur die Bundeswehr ist dort präsent). Die Aufnahme osteuropäischer Staaten in die NATO war zu diesem Zeitpunkt kein Thema.
Belege dazu finden Sie unter dem Link zu einem Interview mit dem Teilnehmer der Gespräche und Chefunterhändler des Zwei-plus-Vier-Vertrages, Robert Zoellick:
https://hls.harvard.edu/today/there-was-no-promise-not-to-enlarge-nato/
Auch die Erzählung Genscher hätte dies gestützt sind unvollständig. Sowohl Bush wie Kohl hatten Ihre Minister “zurückgepfiffen”. Sie konnten nicht für die gesamte Nato sprechen.
Genaueres dazu zB unter
https://ces.fas.harvard.edu/uploads/files/NATO-Tagespiegel-Mary-Elise-Sarotte-Tagesspiegel-Interview.pdf
NATO-Nähe ist ein Scheinargument
Dass die Nähe der Nato an sich nicht das Problem sein kann erkennt man auch an Putins Äusserung bei einer Pressekonferenz mit Gerhard Schröder am 2. April 2004 im Jahr des Beitritts der Baltischen Länder, Bulgariens, Sloweniens und der Slowakei in Novo-Ogarjovo:
"Wir haben keine Besorgnis bezüglich der NATO-Erweiterung bekundet. Wir haben unterstrichen, dass die gegenwärtigen Gefahren so sind, dass sie durch die NATO-Erweiterung nicht beseitigt werden." Er erinnerte daran, dass die russischen offiziellen Persönlichkeiten, die sich mit Verteidigungsproblemen auseinandersetzen, immer deutlich erklärt haben: "Vom Standpunkt der Sicherheit her muss man sich keine übermäßig großen Sorgen wegen der NATO-Erweiterung machen."
Und auch in russischen Medien wie dem Kremlmedium www.en.kremlin.ru wurde das so kommuniziert.
Auch beim Nato-Beitritt der Finnen und Schweden ist Putin erstaunlich ruhig geblieben - er hat laut Geheimdiensten sogar Truppen von der finnischen Grenze abgezogen. Ob er das tat, weil ihm in der Ukraine Personal fehlte oder weil er verstand, dass Finnland als Nato-Staat außer Reichweite ist?
Über die wahren Gründe für den Überfall Putins auf die Ukraine lesen sie z.B. in unseren Informationen zum russischen Imperialismus hier und unter “The Reality of Russia’s War…” hier
Sogar Michail Gorbatschow selbst stellte in einem Interview mit dem ZDF 2014 klar, dass es kein generelles NATO-Versprechen gegen eine Osterweiterung gab. Dieses Narrativ sei ein Mythos. (s. video)
Putins Manipulation:
Dieses Narrativ der "ungerechten NATO-Osterweiterung" konnte man schon in der Rede Putins bei der Munich Security Conference 2007 erkennen - darin beklagt er sich über das gebrochen Versprechen und verwendet ein Zitat von GS Wörner, aber es war manipuliert (!):
Putin zitiert: "Mr. Woerner in Brussels on 17 May 1990. He said at the time that: ‘the fact that we are ready not to place a NATO army outside of German territory gives the Soviet Union a firm security guarantee.” Where are these guarantees?
In der Rede aber hies es in Wahrheit: "This will also be true of a united Germany in NATO. The very fact that we are ready not to deploy NATO troops beyond the territory of the Federal Republic (BRD) gives the Soviet Union firm security guarantees". Zu diesem Zeitpunkt gab es die DDR noch.
Putin hat Wörner einfach falsch zitiert, was bisher wenigen aufgefallen zu sein scheint.
(Den Link dazu: https://www.nato.int/docu/speech/1990/s900517a_e.htm)
Es ging also um das Gebiet der DDR, nicht um die Länder des ehemaligen WAPA!
Das tatsächlich gebrochene Versprechen: Das Budapester Memorandum
Ein Vertragsbruch fand jedoch tatsächlich statt – jedoch nicht durch den Westen gegenüber Russland, sondern durch Russland gegenüber der Ukraine. 1994 wurde das Budapester Memorandum unterzeichnet, in dem sich Russland, die USA und das Vereinigte Königreich verpflichteten, die territoriale Integrität der Ukraine zu respektieren und sie nicht militärisch anzugreifen. Im Gegenzug übergab die Ukraine ihre Atomwaffen Russland, das ohnehin die Steuerungsmacht über diese Raketen hatte (Selbiges gilt auch für Belarus und Kasachstan).
Russland brach dieses Abkommen 2014 mit der Annexion der Krim und verletzte es noch schwerwiegender mit dem Angriffskrieg 2022. Dies, obwohl der Vertrag bis heute gültig ist!
Desinformation und ideologische Verzerrung
Der Erzählung des "verratenen Versprechens" durch die NATO ist eine gezielte Desinformation, die trotz ihrer Widerlegung weiterhin verbreitet wird. Die Faktenlage ist eindeutig:
1. 1990 ging es nicht um Osteuropa, sondern um Deutschland.
2. Die eigentliche Vertragsverletzung in diesem Zusammenhang war die Missachtung des Budapester Memorandums durch Russland.
Dennoch halten viele Menschen an dieser Fehldarstellung fest. Teilweise liegt das an gezielter russischer Propaganda über Medien wie RT, Sputnik und russophile Medien in den westlichen Ländern. Doch auch Experten wie Jeffrey Sachs oder John Mearsheimer bringen sich hier ein und verbreiten dieses Narrativ weiter.
Während das manche als überzeugte Ideologen tun, in der der Westen immer der Schuldige ist, und widersprechende Fakten ausblenden, ist nicht ganz klar, warum zB die vorgenannten Herren daran festhalten. Mit ihren Auftritten in „RT“ und „Sputnik“ - zwei reine Propagandasender der Russischen Regierung - die zuletzt im März 2025, also mitten im Krieg stattfanden, sind sie vielleicht daran gebunden. Andere Hypothesen als Erklärung überlassen wir Ihnen - wir wollen diese dazu nicht aufstellen.
Jeffey Sachs in einem Interview im März 25 (!) bei RT- Russia Today, einem russischen Propagandasender, der ab 2014 in vielen Ländern iin verschiedenen Sprachversionen erschien, um die Reaktionen auf die Krim-Invasion kommunikativ abfangen zu können. Seit 2022 ist RT in Europa gesperrt, um nicht als Waffe im Informationskrieg wirksam zu werden.
Hinzu kommt ein Phänomen, das der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten 1970 in einem Prozess über Redefreiheit entwickelte: das „gefangene Publikum“. Sachs, Mearsheimer & Co haben sich eine Community von Followern aufgebaut, die ihre Sichtweise teilt und die sich - eben wie "Gefangene" - keiner Konfrontation mit anderen Fakten aussetzen. Sie verlören ihre "Weisen", und diese ihre Glaubwürdigkeit. Das wollen weder das Publikum, noch die Professoren.
Diese Situation ist ein Symptom eines größeren Problems: der Polarisierung des Informationsraums. Statt einer offenen, faktenbasierten Debatte dominieren einfache, emotional aufgeladene Erklärungen. Die russische Propaganda nutzt das durch konsequente Simplizität . Wir leben in einer Zeit, in der Desinformation und ideologische Überzeugung oft mehr Gewicht haben als historisch belegbare Fakten.
Durch die vervielfältigenden Mechanismen von social Media, wo auch die Analogen Vorträge und Texte grenzenlos "geshart" werden, entsteht eine Welle an Desinformation, der man sich nicht entziehen kann, aber man kann sich durch Information und Medienkompetenz gegen deren Wirkung immunisieren.