Die “Vorgeschichte” zum russischen Krieg gegen die Ukraine auf dem Prüfstand

Wie eine verdrehte Erzählung die russische Aggression relativiert - Russlands militärische Aggression gegen die Ukraine begann bereits 2014, die hybriden Angriffe noch viel früher.

Im November 2013 rief Mustafa Najem, ein ukrainischer Journalist mit afghanischen Wurzeln, die Zivilgesellschaft dazu auf, sich auf dem Maidan (Hauptplatz in Kyjiw) zu versammeln. Anlass war die von Präsident Janukowytsch verweigerte Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens. Die Demonstrationen richteten sich zugleich gegen die allgegenwärtige Korruption seiner Regierung. Die Antwort des Regimes war brutal: regierungsnahe Schlägertrupps, sogenannte „Tituschki“, ebenso wie schwer bewaffnete Polizeieinheiten verfolgten Protestierende.

In der Nacht zum 30. November 2013 griff die Spezialeinheit Berkut unter dem Vorwand, einen Weihnachtsbaum aufstellen zu wollen, gegen 4 Uhr morgens das Lager der vorwiegend studentischen Demonstrierenden an. Die Polizei setzte unverhältnismäßige Gewalt ein, etwa 80 Personen wurden verletzt, darunter auch internationale Journalisten. Rund 50 Protestierende flüchteten ins St.-Michaels-Kloster, wo sie Zuflucht fanden, während die Polizei das Kloster zeitweise umstellte. Die Gewalt löste landesweite Empörung aus und führte zu einer starken Ausweitung der Proteste.

Als der Autor dieses Textes im Dezember 2013 am Maidan eintraf, wurde bereits offen über Polizeigewalt und deren Opfer gesprochen. Er selbst beobachtete, wie die Polizei erneut vorrückte, befand sich jedoch glücklicherweise nicht direkt auf dem Platz, sondern auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Proeuropäische Demonstrierende am Maidan, Dezember 2013 - Foto: Dietmar Pichler

Unter den Protestierenden befanden sich nicht nur ethnische Ukrainer, sondern auch Menschen belarussischer, armenischer, aserbaidschanischer, georgischer Herkunft sowie Aktivisten aus Belarus und Russland. Neben der proeuropäischen Mehrheit nahmen auch rechte Gruppierungen teil. Gleichzeitig wurden rechtsextreme Kräfte aus dem prorussischen Lager, insbesondere aus Russland selbst, in westlichen Medien oft nicht thematisiert. Dazu zählen zahlreiche Organisationen, die ab 2014 im Donbas aktiv waren, darunter die inzwischen berüchtigte Wagner-Gruppe, die russische ultranationalistische Bewegung NOD („Nationale Befreiungsbewegung“), die neonazistische und eigentlich verbotene RNE („Russisch Nationale Einheit“, mit Hakenkreuzsymbolik), die sogenannte „Russisch-Orthodoxe Armee“ sowie das Bataillon Sparta.

Auch prominente russische Akteure wie der Geheimdienstler und Warlord Igor „Strelkow“ Girkin, selbsternannter Verteidigungsminister der „Volksrepublik Donezk“, sowie Aleksander Borodai, heute Duma-Abgeordneter der Kreml-Partei Einiges Russland, entstammen diesem ideologischen Umfeld.

Der Euromaidan beschränkte sich nicht auf die Hauptstadt. In vielen Städten der Ukraine, auch im Osten und selbst im später besetzten Donezk, kam es zu großen proeuropäischen Demonstrationen, trotz massiver russischer Propagandaeinflüsse.

Russlands Krieg gegen die Ukraine begann 2014

Entgegen mancher Erzählungen begann der Krieg nicht erst 2022, sondern bereits 2014 mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und dem verdeckten militärischen Eingreifen im Donbas. Die erste Phase des Krieges umfasste den Einsatz russischer Spezialkräfte, sogenannter „grüner Männchen“, Söldnergruppen wie Wagner, paramilitärische Formationen wie Sparta und die Russisch-Orthodoxe Armee sowie Geheimdienstmitarbeiter wie Igor Girkin und Aleksander Borodai. Letzterer war selbsternannter Premierminister der sogenannten „Volksrepublik Donezk“ und sitzt heute für Putins Partei im russischen Parlament.

Seit Beginn der Besatzung 2014 wurden systematisch Menschenrechte verletzt. Zivilisten erlebten Russifizierung, Folter, Vergewaltigung, gezielte Tötung zivilgesellschaftlicher Akteure, Zwangsrekrutierungen und die Indoktrinierung Jugendlicher. Die ukrainische Identität wurde in den besetzten Gebieten aktiv unterdrückt, ein kultureller Vernichtungsversuch. Wer Widerstand leistete, wurde verfolgt oder getötet.

Ein zentrales Verbrechen dieser Anfangszeit war der Abschuss von Flug MH17 über dem Donbas. Die Verantwortung dafür liegt nachgewiesenermaßen bei russischen Kräften. Dies wurde von niederländischen Gerichten, der internationalen OSINT-Community, dem Bericht des ermordeten russischen Oppositionspolitikers Boris Nemzow sowie der UN-Luftfahrtorganisation ICAO (International Civil Aviation Organization) belegt. Dennoch bestreitet Russland weiterhin jede Verantwortung und verbreitet eine Vielzahl widersprüchlicher Erzählungen, was den Fall MH17 zu einem der am umfassendsten dokumentierten Desinformationsbeispiele macht.

Die russische Aggression gegen die Ukraine erfolgte durch diese Elemente:

  • Russische Geheimdienstmitarbeiter

  • Russische Söldnertruppen (z. B. Wagner)

  • „Freiwilligenbataillone“ mit extremistischen, rechtsradikalen oder stalinistischen Ideologien

  • Soldaten ohne Hoheitsabzeichen („grüne Männchen“)

  • Soldaten „im Urlaub“ oder angeblich „verlaufen“

  • Finanzmittel russischer Oligarchen

Weiters gab es eine über Jahrzehnte kultivierte prorussische Infrastruktur in der Ukraine (Anhänger des Großrussischen Reichs, Altstalinisten, kriminelle Netzwerke, wirtschaftliche Kollaborateure mit Kremlnähe) sowie eine langjährige Desinformationskampagne und Cyberangriffe auf die Ukraine.

2014 – Mythen auf dem Prüfstand -

Wurde der Maidan mit 5 Mrd. USD aus den USA finanziert?

Dieser Fake kursiert tatsächlich immer und immer wieder und wurde unter anderem auch von Politikern und in einer deutschen Kabarettsendung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen verbreitet. Er war aber damals bereits als „out of context Fake“ bekannt. Die 5 Mrd., von welchen die damalige Außenbeauftragte Nuland sprach, flossen über mehrere Jahrzehnte als Entwicklungshilfe in die Ukraine und standen in keinem direkten Zusammenhang mit den Euromaidan-Protesten (Faktenchecks siehe Linkverzeichnis).

Fazit: Die Summe stammt aus langfristiger Demokratieförderung – kein Bezug zur Maidan-Finanzierung.


Haben Ukrainer ein russisches Kind gekreuzigt?

Diese Geschichte zur Dämonisierung der Ukrainer wurde besonders erfolgreich in Russland verbreitet, fand aber auch den Weg in internationale Kommentarspalten. Auch RT berichtete darüber: „Ukrainians are literally crucifying babies.“ Die Geschichte wurde 2014 auf dem russischen Ersten Kanal (Perwy Kanal) ausgestrahlt. Eine angebliche „Augenzeugin“ – in Wirklichkeit eine Schauspielerin – berichtete detailliert von der angeblichen öffentlichen Kreuzigung eines Kindes durch ukrainische Soldaten in Slowjansk. Eine unabhängige Recherche bewies, dass es keinerlei Belege oder Zeugenaussagen für dieses Ereignis gibt.

Fazit: Reine Propaganda – frei erfunden und nachweislich inszeniert.


Wurde in der Ukraine nach dem Euromaidan 2014 die russische Sprache verboten?

Nein. Auch diese Lüge, oft genutzt, um die russische Aggression zu relativieren, stimmt nicht. Die russische Sprache war weiterhin präsent – in Medien, Büros, in Durchsagen der ukrainischen Fluglinie, auf Produkten und nicht zuletzt in Selenskyjs TV-Serie „Diener des Volkes“ (2015–2019), die großteils auf Russisch war. Auch wurden in der ukrainischen Hauptstadt Russischkurse für Touristen angeboten.

Was verändert wurde: Überregionale Angebote mussten auch auf Ukrainisch verfügbar sein. Übersetzungen wurden obligatorisch (z. B. Untertitel im TV), und in Ämtern musste Ukrainisch präsent sein – man wurde auf Ukrainisch begrüßt, was nicht bedeutete, dass der Dialog nicht auf Russisch weitergeführt werden durfte.

Nach der vollumfänglichen Invasion sprechen viele russischsprachige Ukrainer vermehrt Ukrainisch – nicht weil sie es müssen, sondern als bewusste Abgrenzung zur russischen Propaganda, die behauptet, russischsprachige Menschen seien automatisch „Russen“.

Fazit: Russisch wurde nicht verboten. Egal wie man zu den Maßnahmen zur Stärkung der ukrainischen Sprache steht, mit einem Sprachverbot hatte das nichts zu tun.

Wurden im Krieg im Donbas 14.000 Zivilisten von der ukrainischen Armee getötet?

Diese Falschaussage taucht immer wieder auf, besonders zur Relativierung der russischen Vollinvasion. Die Zahl 14.000 hat einen realen Hintergrund, umfasst aber alle Todesopfer im Krieg in den Regionen Donezk und Luhansk zwischen 2014 und dem 24. Februar 2022.

Tatsächlich handelte es sich bei mehr als 10.000 der Toten um Kombattanten beider Seiten, also ukrainische und prorussische Kämpfer – nicht um Zivilisten. Laut UN kamen 3.404 Zivilistinnen und Zivilisten ums Leben, wobei diese Zahl auch die 298 Opfer des durch russische Kräfte abgeschossenen Passagierflugs MH17 enthält.

Sicherheitskräfte bewegen sich in Richtung Protestierender am Maidan.
Foto Dietmar Pichler, Dezember 2013

Wichtig ist auch: In den letzten drei Jahren vor der Vollinvasion lag die Zahl ziviler Opfer unter 100, meist durch Minen. Kurz vor dem Einmarsch startete Russland eine Welle inszenierter Explosionen unter falscher Flagge sowie eine massive Desinformationskampagne mit gefälschten Videos – als propagandistisches Vorspiel und Pseudo-Rechtfertigung für den Krieg.

Fazit: Die Zahl wird bewusst falsch interpretiert – die meisten Toten waren Kämpfer, nicht Zivilisten. Auch unterschlägt dieses Narrativ die generelle Verantwortung Russlands für den Krieg.

Ist die NATO-Erweiterung oder die Absicht der Ukraine, den Schutz der NATO zu suchen, der Grund bzw. gar eine „Rechtfertigung“ für die russische Aggression?

Dieser Mythos war 2014 genauso falsch wie 2022, und heute ist er es auch. Leider haben auch (scheinbar) seriöse Akteure und Medien das Narrativ „Russland fühlt sich von der NATO bedroht“ wiederholt, anstatt korrekt zu berichten: „Russland gibt vor, sich von der NATO bedroht zu fühlen.“ Tatsächlich bestand nie eine Gefahr für Russland durch die NATO – außer natürlich der, den eigenen Imperialismus nicht mehr frei ausleben zu können, sprich: den militärischen Zugriff auf ehemals unterworfene Länder zu verlieren. Auch angebliche Zusagen, die NATO nicht zu erweitern – die sich eigentlich auf Basen im Gebiet der ehemaligen DDR bezogen und zu einer Zeit gemacht wurden, als die Sowjetunion und der Warschauer Pakt noch existierten – sind kaum eine Rechtfertigung für die Invasion. Dabei hat Russland zwischendurch immer wieder kommuniziert, dass die Erweiterung der NATO kein Problem sei und die Länder selbst entscheiden sollten – bis sich der Wind dann 2007 drehte.

Mehr zum Mythos NATO-Erweiterung im INVED-Artikel: Link: Das-narrativ-der-ungerechtfertigten-nato-osterweiterung

Dieses Narrativ trägt zur Relativierung und Leugnung des russischen Imperialismus bei. Die Aberkennung des Existenzrechts der Ukraine, die Verherrlichung von imperialen Figuren des russischen Imperiums, aber auch der Sowjetunion, und die ständige Forderung nach Expansion durch russische Offizielle und Staatspropagandisten wird bewusst ausgeblendet.

Siehe unser Artikel: Link: Die-Leugnung-des-russischen-Imperialismus-im-Faktencheck

Was tut dieses Rahmennarrativ der verzerrten „Vorgeschichte“ mit uns?

Bereits seit 2014, aber insbesondere seit 2022, verfolgt die Kampagne gegen die Ukraine gleich zwei Ziele. Erstens soll die Solidarität mit der Ukraine gebrochen, die Haltung gegenüber Russland aufgeweicht und so die russische Aggression erleichtert werden. Je mehr Schmutz man über das Opfer der Aggression ausbreitet, desto schwieriger wird es, die Unterstützung zu rechtfertigen oder gar dafür zu werben, noch mehr zu tun. Weiters, da die Ukraine auch ein Top-Thema auf EU-Ebene ist, dient diesbezügliche Propaganda auch dazu, die Europäische Union zu spalten und damit in der Entscheidungsfindung zu schwächen oder gar zu blockieren. Populistische Kräfte können von dieser unsicheren Situation profitieren und durch entsprechende russische Support-Kampagnen gestärkt werden.

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Links:

Faktencheck zu der angeblichen 5 Mrd. Dollard Maidan Finanzierung: EUvsDisinfo, August 2021
https://euvsdisinfo.eu/report/the-west-funded-the-ukrainian-coup-with-5-billion/

Der Russe und Ex-Geheimdienstoffizier Igor Girkin zu seiner Verantwortung für den Krieg im Donbas, November 2014
https://www.sueddeutsche.de/politik/russischer-geheimdienstler-zur-ostukraine-den-ausloeser-zum-krieg-habe-ich-gedrueckt-1.2231494

MH17-Faktencheck im ARD “Faktenfinder”, November 2022
https://www.tagesschau.de/faktenfinder/mh17-russland-desinformation-101.html

“Putin’s undeclared war”, über Artillerie-Angriffe aus Russland im Jahr 2014, Bellingcat, December 2016
https://www.bellingcat.com/news/uk-and-europe/2016/12/21/russian-artillery-strikes-against-ukraine/

Ein ehemaliger Wagner Söldner im Interview über die Vorgänge 2014, ZDF, Februar 2022
https://www.zdf.de/video/dokus/putins-krieger-112/putins-krieger-102

“Why the Donbas War Was Never “Civil””, Stockholm Center for Eastern European Studies, Julia Kazodobina, Jakob Hedenskog, Andreas Umland, April 2024
https://sceeus.se/en/publications/why-the-donbas-war-was-never-civil/

The failure of Russian propaganda, Dr Jon Roozenbeek,
https://www.cam.ac.uk/stories/donbaspropaganda

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Die Leugnung des russischen Imperialismus im Faktencheck